Der Mythos „Redmire Pool“
Der Redmire Pool ist kein gewöhnliches Gewässer, sondern ein Ort voller Legenden und anerkannter Rekorde. An diesem winzigen See wurde das Karpfenangeln berühmt. Selbst gemessen mit heutigen Maßstäben ist es kaum zu begreifen, welchen Kultstatus der Redmire Pool in seiner Blütezeit erreichte. Angelzeitungen rissen sich um jede noch so kleine Information über die dortigen Ereignisse, obwohl vielen unklar war, wo sich dieser See eigentlich genau befindet. Die wenigen die eingeweiht waren, waren verschwiegen. Sie wussten nämlich, dass sie etwas besonderes in Händen hielten. Etwas, das nicht nur ihr Leben, sondern auch das tausender anderer Angler grundlegend verändern sollte.

Wie alles begann
Von wem und zu welchem Anlass der Redmire Pool geschaffen wurde ist bis heute unklar. Sicher ist nur, dass irgendwann zwischen zwei seichten Hügeln in Herfordshire ein kleiner Damm errichtet wurde, der seitdem das Wasser eines schmalen Baches aufstaut. Die älteste Aufzeichnung, in der der Redmire Erwähnung findet, ist eine Landkarte aus dem Jahre 1780. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass seine Entstehungsgeschichte weit in das 17. Jahrhundert zurückreicht.
Über Jahrhunderte blieb das Gewässer nahezu unbehelligt, bis 1934 der erste Besatz mit Karpfen stattfand. 50 kleine Bartelträger von etwa 10cm Länge bekamen dort ein neues Zuhause, ohne zu wissen, dass einige von ihnen schon bald Geschichte schreiben sollten. Trotz dieses Besatzes wurde der Redmire in den Folgejahren praktisch nicht befischt, ausgenommen von dem ein oder anderen Schwarzangler.
Ein Rekord, der alles veränderte
Es war ein nebeliger 3. Oktober des Jahres 1951, als ein Angler namens Bob Richards die Zukunft des Gewässers und die der Angelei grundlegend verändern sollte. Er fischte an diesem Nachmittag mit der Pose und Honigpaste an einem Platz, der später als „Willow Pitch“ (dt. „Weiden-Stelle“) bezeichnet werden sollte. Es war gegen 15:30 Uhr, als er plötzlich einen Fisch hakte, der seine 11 ft. Millward's „Wallis“ - eigentlich eine Rute zum Rotaugenfischen – bis an ihre Grenzen bog. Nach einem harten Drill von 15 Minuten an einer Schnur mit lediglich 2,5 kg Tragkraft schaffte es Richards schließlich einen monströsen Karpfen zu landen: 31 lb. 4 oz. Britischer Rekord! Es war ein solcher Ausnahmefisch, dass die Angelpresse über Wochen hinweg davon berichtete. Bob Richards, der Rekordkarpfen und das unbekannte Gewässer waren plötzlich in aller Munde.
Auch der junge Richard Walker, der schon bald selbst Angelgeschichte schreiben sollte, wurde natürlich auf den Riesenfisch aufmerksam. Es ergab sich schließlich, dass Walker und Richards in Kontakt traten und Walker die Ehre hatte, den Rekordkarpfen zu präparieren. Auf diesem Wege erfuhr er natürlich genau, wo sich das Gewässer befindet...

Richard Walkers erster Eindruck
Zu Beginn der nächsten Angelsaison stattete Walker dem Redmire einen ersten Besuch ab. In diesem Sommer war der Pool so stark mit Krautteppichen durchzogen, dass ein 1,5 oz Blei nach dem Einwurf einfach darauf liegen blieb. Solch widrige Umstände hielten ihn und seinen Freund Pete Thomas jedoch nicht von einem ausgiebigen Probefischen ab. Die ersten Tage und Nächte blieben aber ohne Fisch. Dann, in den letzten Stunden ihres Besuchs, gelang Thomas das, womit beide nicht mehr gerechnet hatten. Er schaffte es tatsächlich einen Fisch zu haken und nach langem Drill zu landen! Was müssen beide in diesem Moment gedacht haben? Im Kescher vor ihren Füßen lag ein weiteres Monster! Die Waage pendelte sich bei damals beeindruckenden 28 lb. 12 oz. ein. Das war der zweitgrößte Karpfen, der in England jemals gefangen wurde, aus einem unbekannten Gewässer, das wenige Monate zuvor noch den Rekordfisch hervorbrachte! Voller Euphorie arrangierte Walker in den darauf folgenden Tagen, dass er und eine Handvoll weiterer, erlesener Karpfenangler regelmäßig dieses Traumgewässer befischen durften. Die Ära „Redmire“ nahm ihren Anfang.
Der nächste Rekord!
Es war der 13. September, immer noch das Jahr 1952, und in den vergangenen 11 Monaten wurden in dem kleinen, unbekannten Gewässer die beiden größten Karpfen des Landes Gefangen. An diesem Samstag Morgen hatte sich Walker für Teig als Hakenköder entschieden, den er mit einer Brotkruste ausbalancierte, sodass er langsam zu Grund und nicht zu tief in das Kraut einsank. Gegen 5 Uhr morgens krächzte plötzlich sein selbstgebauter Bissanzeiger durch die Dunkelheit. Die Schnur lief rasant ab, Walker stürzte zur Rute, schloss den Bügel, vergewisserte sich, dass sich die Schnur nicht verfangen hatte und setzte den Anhieb. In den folgenden, vermutlich ewig dauernden Minuten begann ein Drill, dem bereits Buchkapitel gewidmet wurden. Trotz mehrerer Fluchten in Richtung versunkener Bäume und einigen Hängern im dichten Kraut, schaffte es der erfahrene Walker schließlich den starken Kämpfer zu landen. Ihm muss der Atmen gestockt sein, als er den Karpfen aus dem Wasser hob! Es war ein Fisch, wie er zu dieser Zeit noch nie gefangen wurde! Mit einem enormen Gewicht von 44 lb. war er mehr als 12 Pfund schwerer, als der bisherige englische Rekord, der ja aus dem selben Gewässer kam! Nachdem Walker den Fisch hälterte, überlegte er stundenlang, was er mit ihm anstellen soll. Seine Entscheidung war ungewöhnlich, denn er fuhr in den nächsten Ort und telefonierte mit dem Londoner Zoo. Die Zooverwaltung war offensichtlich sehr beeindruckt von Walkers Geschichte, da bereits nach wenigen Stunden mehrere Mitarbeiter samt Fischtransportbehälter am Redmire eintrafen. So kam es schließlich, dass der Fisch, der auf den Namen „Clarissa“ getauft wurde, noch 19 Jahre lang im Aquarium des Londoner Zoos zu bestaunen war. Das Medienecho, dass Walker mit diesem Schritt hervorrief, war gigantisch.
Aber warum entschied sich Walker zu diesem ungewöhnlichen Schritt? In den 50er Jahren hatte das Karpfenangeln nahezu keine Bedeutung im Angelsport. Karpfen waren aufgrund fehlenden Besatzes in nur wenigen englischen Gewässern zu finden, da man glaubte, sie bräuchten hundert Jahre um heranzuwachsen um sich dann noch nicht mal fangen zu lassen. Walker wollte deshalb durch seine Aktion gezielt Aufsehen erregen, um das Karpfenangeln zu fördern. Das ist ihm ja wohl auch gelungen!

Eine Zeit großer Angler
In den folgenden Jahren entwickelte sich der Redmire Pool zu einem Magneten für die ambitioniertesten Karpfenangler des Landes, von denen sich einige zu den größten Persönlichkeiten unseres Hobbys entwickeln sollten. Neben Richard Walker fischten dort z.B. Fred J. Taylor, Maurice Ingham, Jack Hilton, Rod Hutchinson , Kevin Maddocks und schließlich die lebende Legende Chris Yates. Es war jedoch nicht einfach, oder besser gesagt fast unmöglich, in den kleinen Kreis der Redmire Angler aufgenommen zu werden. Bis 1968 durften nur Mitglieder des Carpcatcher's Club dort Fischen. Ab der neuen Saison wurden dann von der Gewässerverwaltung scharfe Einschränkungen erlassen: maximal 4 Angler gleichzeitig am Gewässer, keine Gäste, Freunde, Familie oder Hunde, kein Waten, Kraut entfernen, Bootfahren oder Uferbeschnitt und nie mehr als zwei Autos gleichzeitig auf dem Anwesen. Unter der Führung von Jack Hilton wurde daraufhin ein kleines Syndicate (eine Art Interessengemeinschaft) gegründet, dessen maximale Größe auf 10 Angler begrenzt war. Da nur 4 Angler gleichzeitig am Gewässer sein durften, wurde ein Rotationsverfahren eingeführt. Die 9 Mitglieder wurden in drei feste Gruppen unterteilt, von denen jede Gruppe jeweils nur jede dritte Woche Fischen durfte. Ausnahmen von dieser Regelung oder Platztausch der Gruppenmitglieder waren nicht gestattet! Neumitglieder wurden erst aufgenommen, wenn ein altes Mitglied austrat. Redmire blieb somit für tausende interessierter Angler stets ein unerfüllter Wunsch...
Ein erfolgreiches Duo
1972 hatten zwei junge Angler das Glück in das Redmire Syndicate aufgenommen zu werden: Rod Hutchinson und Chris Yates. Da beide der gleichen Rotationsgruppe zugeteilt wurden lernten sie sich beim gemeinsamen Fischen kennen und wurden gute Freunde. Es kamen zwei grandiose Angler zusammen, die bereits in ihrem ersten Jahr mit beeindruckenden Fängen auf sich aufmerksam machten. Hutchinson fing bspw. an einem Morgen drei Zwanziger und drei Fische über 10 lb., ein Fang, der zu dieser Zeit absolut außergewöhnlich war. Auch Yates schrieb Schlagzeilen, als er mit „Fat Lady“ fast an den Rekord von Richard Walker heranreichte. Mit 43 3/4 lb. war dieser Fisch der zweitgrößte Karpfen Englands. Grund für den Erfolg dieses Teams war es, dass sie neben dem cleveren Einsatz unterschiedlicher Partikelköder auch einen mobilen Ansatz verfolgten. Während die meisten Redmire Angler ihre Zeit an einem Platz absaßen, suchten beide gezielt nach „bubblers“, also gründelnden Fischen. Die Zeit am Redmire ging für sie jedoch schnell vorbei. Yates verließ das Syndicate und Hutchinson, den die anderen Mitglieder nie so recht akzeptierten, wurde ausgeschlossen.
Und noch ein Rekord!
1980 sollte die Angelwelt erneut in Aufruhr versetzt werden. Es war der 16. Juni 1980, als Chris Yates, der 1977 erneut die Chance bekam in das Syndicate aufgenommen zu werden, im flachen Bereich des Pools angelte. Er fischte mit einer leichten gespließten Rute und Centrepin – durchaus antiquiert zu dieser Zeit. Der 8er Goldhaken war gerade erst mit drei neuen Maiskörnern bestückt, als die Pose unterging. Sekunden später befand sich Yates im Drill seines Lebens, denn am Haken hing der neue britische Rekordkarpfen! Dieser Fisch, den Yates auf den Namen „The Bishop“ taufte, wog exakt 51 lb. 6 oz.! Der 28 Jahre alte Rekord, den Richard Walker mit „Clarissa“ immer noch hielt, war nun um mehr als sieben Pfund gebrochen. Der Redmire hatte es also wieder getan! Seit 1951 kam nun auch der dritte britische Rekordfisch in Folge aus diesem kleinen und unscheinbaren See im Süden Englands. Was für ein Gewässer!

Eine Ära neigte sich dem Ende
Durch die zunehmende Popularität der Karpfenangelei, einer neuen Generation von Anglern, der Entdeckung weiterer guter Gewässer in England und aufgrund beeindruckender Fänge aus Frankreich, begann der Redmire in den 80ern und 90ern allmählich aus den Köpfen der breiten Masse zu verschwinden. Es wurde still um das wundersamste Gewässer, das die Karpfenangelei je hervorbrachte. Bis heute bleibt es ein Rätsel, wie die 50 kleinen Karpfen, die 1934 besetzt wurden, drei britische Rekordfische und mehrere zweite und dritte Plätze hervorbringen konnten. Was macht den winzigen Redmire so besonders, dass die Fische auf solche Gewichte heranwachsen konnten? Vermutlich werden wir es nie erfahren. Auch wenn wir heute nichts mehr vom Redmire Pool hören, so wird er den Anglern für immer in Erinnerung bleiben, viel größer und prächtiger als er eigentlich ist...
Von Wolfgang Kalweit